Prof. Dr. Carsten Kortum

Die neue Gattung Retail Media als strategisches Feld der Vermarktung im Handel

von Prof. Dr. Carsten Kortum

Bisher konnten Handelsunternehmen mit ihren Haushalts- und Filialhandzetteln Werbeflächen an die Industrie verkaufen. Diese Werbekostenzuschüsse (WKZ) waren bei Lebensmittelhändlern immer ein wichtiger Einnahmeposten. Walmart konnte z.B. in 2021 2,1 Mrd. $ Werbeerlöse erzielen bei 559 Mrd.$ Umsatz.

Das Retailmarketing-Mix hat sich in einer eher konservativen Handelslandschaft viele Jahre kaum verändert. Inzwischen ist aber das digitale Marketing fester Bestandteil und gewinnt zunehmend Gewicht in der strategischen Ausrichtung. Auch wenn das Medium Handzettel jede Woche noch millionenfach verteilt wird (und zu 80% ungelesen ins Altpapier wandert) und die Diskussion über pro und contra noch sehr intensiv geführt wird, ist der Trend klar vorgezeichnet. Die analoge Werbung wird durch digitale Werbung sukzessive und bei machen Händlern auch abrupt ersetzt. Die Klassiker Fernsehen, Radio und Printwerbung in Tageszeitungen und Handzetteln gehen zurück. Aus dem WKZ-Marketing wird in der Folge Retail Media.

Wie kann die Zukunft von Retail Media aussehen? Wie können Angebote des Handels an die Markenartikelindustrie gestaltet werden? Wie sehen die Kampagnen und die Kundenansprache von morgen aus?

Der Handel kann hier seine Kundendaten nutzen, Daten, die die Industrie gerne selber hätte. Das setzt natürlich eine hohe Kundendatenqualität voraus. Wenn keine Kundenkarten und Kundenapps vorhanden sind oder die Nutzungsquote nur gering ist, wird die zielgenaue Kundenansprache kaum möglich sein. Nur Bonauswertungen ohne Kundenbezug reichen dafür nicht aus. Kundendaten sind somit nicht nur für die Kernleitung eines Händlers, das Sortiment, wichtig, sondern auch für die Vermarktung von digitalen Werbeflächen. Ein Großteil der Angebotspreise wird daher zukünftig nur noch an Kundenapps gebunden sein. Der/die Kunde:in bekommt die Angebote und gibt im Gegenzug seine Daten.

Die digitale Werbung am Point of Sales (POS) für Marken kann über Stelen und Videoboards an den Gondelköpfen oder Eingangszonen oder auch über digitale Minibildschirme und Mutimediashelf eingespielt nicht nur statische Informationen, sondern auch Bewegtbilder bis hin zu kurzen Videos analog zu Reels zeigen. Diese Medien könnten Werbetreibenden somit mit einem deutlichen Mehrwert angeboten werden. Die hohe Flexibilität konnten die Handzettelwerbung nie leisten. Zusätzlich wird der Einkaufswagen am POS zukünftig nicht nur mit Kameras und Sensoren erkennen, was sich im Einkaufskorb befindet, um den Check-out zu erleichtern. Ein LED-Sreen am Wagen wird nicht nur eine digitale Navigation ermöglichen, sondern auch Werbung von Markenartiklern. Die Süßwarenwerbung gibt es dann genau beim Einbiegen in den entsprechenden Gang im Supermarkt eingespielt.

Diese digitalen Werbebotschaften können dann bei filialisierten Händlern auch auf Sortiment, Promotions, Zielgruppen und Kaufverhalten vor Ort individuell angepasst werden. Die Zeit zwischen Werbeimpuls und Kaufentscheidung am POS ist deutlich verkürzt auf wenige Sekunden gegenüber dem Impuls morgens in der Tageszeitung und dem Nachmittagseinkauf im Supermarkt. Bei der Informationsüberflutung ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Die Messbarkeit der digitalen Werbung durch die am POS ermittelten Kundendaten zeigt die Kampagenwirkung deutlich valider. Die Industrie zahlt ja nur für nachweisbare höhere Aktivierung und Absätze. Die Möglichkeit von Feldexperimenten bei den Werbebotschaften ist deutlich flexibler mit direkt zuzuordnenden Erfolgskontrolle. Dieses wird zu effizienteren Promotions und Neuprodukteinführungen führen.

Auch in der Out-of-home-Werbung an und auf den Außenflächen des Handels wird die bisher übliche Plakatwerbung durch digitale Bildflächen ersetzt werden. Wie im Fußballstadion bei der digitalen Bandenwerbung wird entsprechend der Kundenzusammensetzung über den Tag die Werbung verändert. Dynamic Pricing wird ergänzt durch Dynamic Retail Media, eine schlagkräftige Kombination.

Im E-Commerce gibt es für den Handel ein weiteres interessantes Themenfelder. In den Onlineshops der Händler erfolgte die zielgruppenspezifische Bespielung der Werbeflächen bisher auf Basis von Cookies. Diesen muss jedoch aktiv zugestimmt werden. Kunden auf den Internetseiten der Händler sind mit ihrer Kaufhistorie bekannt. Hier kann unmittelbar bei Produktsuchen noch vor der Kaufentscheidung ganz spezifisch der Kundschaft eine Markenproduktbotschaft gezeigt werden. Kurz vor dem Klick bei gegebener Nachfrage die eigene Marken präsentieren, für den Markenartikler der beste Zeitpunkt für seinen Impuls ohne Streuverluste.

Digitale Regale können am POS Artikel aus dem Onlineshop und dazu passende Werbeinhalte zeigen und damit aus Multi-Channel mit getrennten Kanälen endlich Non-line-Marketing machen. Nach dem Long-Tail-Ansatz verlagern sich die Umsätze von den Hits in die Nische. Die Nische kann durch digitale Regale mehr Aufmerksamkeit bekommen. Auch hier wird es wie im analogen Regal gute und wenige gute Plätze geben, die entsprechend vermarktet werden können. Die Marke kann sich hier positionieren mit Infos, die weit über die Informationen bei Electronic Shelf Label (ESL) hinausgehen. ESL wird sich eh verändern von den Vorgaben der Preisauszeichnungsverordnung hin zur aktiven Kundenansprache.

Das Gesamtvolumen von Retail Media wird nach WPP-Einschätzung auf 160 Mrd. USD anwachsen bis 2027 mit dann 14,4 % Anteil an den weltweiten Werbeausgaben. Der Anteil von Retail Media kann von heute 0-3% Anteil am Bruttowarenwert auf bis zu 5% steigen. Hier liegt der Hebel für eine höhere Profitabilität im Handel. Von diesem riesigen Kuchen werden sich die Händler ein Stück abschneiden, die konsequent und strategisch in digitales Marketing investieren. Das Feld muss dabei nicht Amazon und Co. überlassen werden.