Thomas Ebenfeld

Der paradoxe Konsument und seine Auswirkungen auf die Marken

von Thomas Ebenfeld, Psychologe, Co-Founder und Managing Director der internationalen Research Boutique concept m research + consulting –

Die Zeiten sind bewegt, und der Verbraucher sieht sich in einem permanenten Dilemma: Wie kann er mit Konsum zu einer besseren Welt beitragen? Die Antwort muss die Markenkommunikation finden.

Der Mensch als Konsument lebt gefangen in Widersprüchen. Er möchte gerne Gutes bewirken und gleichzeitig günstig Grillfleisch kaufen. Mit konträren Motivationen umzugehen, ist seit jeher das Handwerkszeug des Marketeers, doch die aktuellen Entwicklungen einerseits und die neuen Generationen, insbesondere Gen Z, andererseits haben eine neue Dimension der paradoxen Beweggründe entstehen lassen.

Einige Beispiele aus den Ergebnissen unserer Marktforschung, die heutzutage ganz normal geworden sind: Kunden wünschen sich Elektroautos, die aber Höchstgeschwindigkeiten fahren können sollen. Touristen sehnen sich nach Ursprünglichkeit und Entschleunigung, steigen dafür aber in den Jet. Menschen möchten mit dem Smartphone die Allverfügbarkeit aller möglichen Dienstleistungen, verlangen aber nach einer Warnung, wenn bestimmte Bildschirmzeit-Limits überschritten werden.

Ist da etwas aus dem Ruder gelaufen? Sicher ist, dass die aktuellen Krisen und Konflikte psychologische Spuren hinterlassen haben. Viele, wenn nicht gar die meisten Menschen erleben das Weltgeschehen als überwältigend und haben in vielerlei Hinsicht das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. „Stapelkrise” ist ein Wort, das diese Befindlichkeit zum Ausdruck bringt. Es gibt nicht mehr eine Abfolge von Krise und Lösung, sondern eine ungelöste Krise folgt auf die nächste.

Das hat dazu geführt, dass auch der Konsum unter anderen Vorzeichen stattfindet. Bis zur Corona-Pandemie regierte der „gierige Konsument“, der alles sofort verfügbar haben wollte. Das war die Fortführung der Maximierungskultur, die wir seit vielen Jahren beobachtet haben. Beispiele für das Agieren des gierigen Konsumenten sind etwa der Boom des Online-Handels oder die Erfolge der Streaming-Plattformen, die zu jeder Tageszeit ununterbrochenen Medienkonsum ermöglicht haben. Diese Erscheinungsformen haben noch einmal eine Entgrenzung ausgelöst – Ladenschlusszeiten und Sendetermine spielten plötzlich keine Rolle mehr.

Diese Entwicklung verschafft dem Menschen (dem Konsumenten) immer mehr Möglichkeiten, doch jede Entscheidung für eine Sache ist immer zugleich auch eine gegen hundert andere Optionen. Je mehr Optionen im Angebot sind, desto größer wird die Sehnsucht nach dem, was „auf der Strecke“ bleibt.

Wir kommen zu dem Befund, dass die Menschen sich aktuell in zwei Kulturen bewegen, die sich – eigentlich – gegenseitig ausschließen. Die Pandemie und die Krisen danach (Klima, Krieg, Energie, Inflation) haben aus dem gierigen einen paradoxen Konsumenten gemacht, der in einem beständigen Spannungsverhältnis lebt und nicht genau weiß, wo er sich zu Hause fühlen soll – bei der gewohnten  Maximierungskultur oder doch bei der Rückbesinnungskultur.

Die Maximierungskultur steht für die möglichst umfassende Selbstinszenierung des Ichs in allen Facetten, für das Einreißen von Grenzen („forever young“) und für ein beständiges Switchen zwischen Lifestyles und Lebensmodellen. Mehr geht immer, besser geht immer. Die Rückbesinnungskultur hingegen führt den Menschen weg von der Inszenierung hin zur Sinn- und Identitätsstiftung, sie glorifiziert das einfache Leben, sie setzt auf moralische und ethische Dimensionen des Konsums und erfreut sich an Ursprünglichkeit und Authentizität, wie sie beispielsweise die Natur bietet (zu bieten scheint, um genau zu sein). Es steht, um es auf den Punkt zu bringen, der entfesselte Konsum eines „Black Friday“ der Sinnsuche der „Fridays-for-Future”-Aktivisten gegenüber.

Quelle Fotolia

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Diese gegensätzlichen Wertesysteme haben in der Pandemie noch einmal eine Zuspitzung erlebt. Plötzlich stand Wissenschaft gegen Ideologie, Nähe gegen Distanz, Kontrolle gegen Eigenverantwortung, Paternalismus gegen Freiheitsliebe, und national gegen global.

Wie aber gehen die Menschen mit dieser Paradoxie um? Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich der Mensch einerseits wahrnimmt als ein Individuum, das hilflos einem Mahlstrom an überwältigenden Megatrends gegenübersteht, andererseits missbehagt es ihm, dass er in seiner selbst wahrgenommenen Winzigkeit zugleich für alles verantwortlich gemacht wird.

In der Praxis entlädt sich das Unbehagen, die hyperkomplexe globale Kultur nicht mehr fassen zu können, in vielfältigen Kontrollwünschen, die den Alltag dominieren. Die Diskussion über die Abschaffung des Bargelds, die Datenschutzdebatten, aber auch das Me-too-Thema und die Aktivitäten zum Klimaschutz bedienen unbewusst auch die Sehnsucht nach Kontrolle.

Ein anderer Ausweg ist, dass die Menschen für sich verstärkt nach Stabilität und Resilienz suchen. Insbesondere der Körperbezogenheit der Generation Z lässt sich vor diesem Hintergrund verstehen, denn Physis ist der Zugang zur Psyche – das geheime Ziel des Körperkults ist die Seele. Man macht sich resilient und stark, man lernt mit Widerständen (z. B. in Form von Gewichten) umzugehen und mit Energie dem Leben zu begegnen.

Grundsätzlich gibt bei den meisten Menschen das Eingeständnis, dass ein radikales Umsteuern erforderlich ist, wenn den nächsten Generationen keine verbrannte Erde hinterlassen werden soll. Und ebenso grundsätzlich regiert der Wunsch, dass all dies ohne einschneidende Umstellungen gelingen sollte: Wasch’ mir den Pelz, aber mach’ mich nicht nass!

POS und in der Markenkommunikation sollte versucht werden, zwischen diesen Widersprüchlichkeiten Brücken zu bauen. Nicht solche, die gleich einstürzen, wenn sie belastet werden, sondern die glaubwürdig eine Vermittlung zwischen diesen Welten versuchen. Konsum mit reinem Gewissen ist das Motto, und die Schlüsselwörter sind Nachhaltigkeit, Purpose und Diversity.

Moral am Regal (concept m Studie von 2020), das kann heißen, dem Verbraucher mit seiner Konsumentscheidung zugleich ein wenig Erleichterung bei seinem Dilemma zu verschaffen. Das Prinzip der Maximierung beispielsweise, das immer auch in anderen Bereichen zu Belastungen geführt hat (Gesundheit, Familie), könnte sich in der Markenkommunikation zu einem Prinzip der Komplettierung wandeln. Diese idealisierte Integration bedeutet dann, dass es nicht immer das Beste, Schönste und Tollste sein soll, sondern dass auch das Mittelmaß, das Ausbalancierte genügen kann. Derlei Positionierungen erfüllen die Sehnsucht nach einem guten Leben mit nachhaltigem Konsum und im Einklang mit der Natur.

Marken machen den Konsumenten Angebote zum persönlichen Wachstum innerhalb der Widersprüche unserer Welt* (*aus unserem Markenkompass „Spheres of Brand Impact ­– SOBI). Wenn dies auf einem glaubwürdigen Fundament erfolgen kann, bestehen gute Aussichten, auch in diesen bewegten Zeiten den Konsumenten mit spannenden Botschaften für die eigene Marke zu gewinnen.